Eicheln – eine jahrtausendelang genutzte Ressource mitteleuropäischer Wälder

Seit den Anfängen des Ackerbaus in Mitteleuropa haben Menschen unzählige Male Wald gerodet, um Siedlungen und landwirtschaftliche Nutzflächen anlegen zu können. Obgleich es in der Vergangenheit zweifellos großer Anstrengungen bedurft hat, in unerschlossenen Waldgebieten mit einfachen Werkzeugen offene Areale für den Anbau von Feldfrüchten zu schaffen, darf man sich diese Landnahmeprozesse keinesfalls als einen Kampf gegen den Wald vorstellen. Im Gegenteil: Die agrarische Lebensweise auf kleinen Rodungsinseln wäre ohne die ausgedehnten Waldungen, die sie umgaben, kaum möglich gewesen.

Zum einen boten die Äcker durch ihre Lage inmitten von Wäldern, deren Nähe sich sowohl ausgleichend auf die Temperaturverhältnisse als auch günstig auf den Wasserhaushalt des Bodens auswirkte, den meisten Getreidepflanzen verbesserte Wachstumsbedingungen. Zum anderen diente der Wald als wichtige Rohstoff- und Nahrungsquelle. In der Landwirtschaft, wie sie vom Neolithikum bis zum Mittelalter betrieben worden ist, bildeten Ackerbau, Viehzucht und Waldnutzung ein in zahlreichen Wechselbeziehungen miteinander verflochtenes System: Nicht offenes Wiesen- und Weideland, sondern bewaldete Bereiche lieferten die Futtermittel für den Großteil der Nutztiere, deren Dung wiederum auf den Ackerbauflächen ausgebracht wurde. Man führte Rinder, Schafe und Ziegen in den Wald, damit sie Gräser, Kräuter, junge Triebe sowie Blätter abweiden konnten. Aber auch Schweine, die eine gehaltvollere Ernährung benötigen, fanden dort ein reichhaltiges Nahrungsangebot bestehend aus Wurzeln, Pilzen, Schnecken, Würmern, Larven usw. (Untermast) und Baumfrüchten wie Wildobst und Nüssen (Obermast).

Zu manchen Zeiten war die Viehhaltung im Wald sogar von höherer wirtschaftlicher Relevanz als die Holzgewinnung. So bemessen mittelalterliche Güterverzeichnisse die Qualität eines Waldstücks nicht nach seinem Holzertrag, sondern nach der Zahl der Schweine, die es ernähren konnte. Es gab eine Waldressource, die hierbei eine besondere Rolle spielte, und zwar die nährstoffreichen Früchte der Trauben- und Stieleichen. Wenn die Bäume im Herbst reiche Ernte lieferten, konnten die in den Wald getriebenen Schweine noch vor dem Winter enorm an Gewicht zunehmen und ein als besonders schmackhaft geltendes Fleisch entwickeln. Welcher hohe Stellenwert Eicheln im Mittelalter zukam, bezeugen vor allem zahlreiche Texte, die von erbitterten Auseinandersetzungen um die Rechte an ihrer Nutzung berichten.



Schweinehirt schlägt Eicheln vom Baum
Novemberszene aus dem Martyrologe d'Usuard, um 1270


Auf den folgenden Seiten möchte ich Material zu verschiedenen Aspekten dieser Thematik – der Bedeutung von Eicheln in vergangenen Zeiten – zur Verfügung stellen. Aus geschichtswissenschaftlichem Interesse beschäftige ich mich seit Jahren mit dem Alltagsleben im Mittelalter sowie der historischen Entwicklung der Waldnutzung. Innerhalb dieses weiten Themenfelds hat die einstige Bedeutung von Eicheln meine besondere Aufmerksamkeit gewonnen, denn viele damit verbundene Fragen führen, wie ich feststellen konnte, tief in die Lebenswelt früherer Jahrhunderte hinein. Darüber hinaus demonstriert das Beispiel der Eichelverwendung eindrücklich, wie praktisches Wissen über den Umgang mit einem Nahrungsmittel, das jahrtausendelang ein ganz selbstverständlicher Teil bäuerlicher Wirtschaftsweise war, in einem relativ kurzen Zeitraum verloren gehen kann.

Heike Gems-Müller


Literatur

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Weitere Literaturangaben zu den Themen Funde, Quellen und Eichellagerung sind auf den entsprechenden Seiten dieser Website zu finden.